Vom Datenstau zur Datenflut: Mit KI aus der Sackgasse zur grünen Welle der EPDs
Eine Vervielfachung wie im Zeitraffer – und der Timer läuft. Am 8. Januar 2025 trat die neue EU-Bauprodukteverordnung in Kraft, die Umweltdeklarationen schrittweise zur Pflicht für praktisch alle Bauprodukte macht. Doch von heute 20.000 EPDs müssen in kürzester Zeit Millionen werden. Stefan Zwerenz, Geschäftsführer der IBU Verify, setzt auf eine radikale Lösung: KI-unterstützte Automatisierung der Verifizierung.
Die Dimension wird erst bei genauer Betrachtung klar: Aktuell verfügen maximal zehn Prozent der europäischen Bauprodukte über verifizierte Umweltdeklarationen. Ab 2027 werden schrittweise für verschiedene Produktgruppen 100 Prozent Pflicht – oder das Produkt verschwindet vom Markt. „Wir haben bereits heute Wartezeiten von mehreren Monaten“, sagt Zwerenz im Gespräch. „Die Effizienz muss um Faktoren steigen – und hier wird Digitalisierung entscheidend.“
Das IBU zwischen Tradition und TransformationDas Institut Bauen und Umwelt e.V. (IBU) sitzt im Zentrum dieses Sturms. Seit über vier Jahrzehnten ist das Berliner Institut Deutschlands führender Programmbetreiber für Umwelt-Produktdeklarationen. 85 Prozent aller Datensätze in der staatlichen Ökobaudat stammen vom IBU – eine Marktposition, die jetzt zur Belastungsprobe wird.
Stefan Zwerenz leitete dort jahrelang die Verifizierungsstelle, bevor er Anfang 2025 Geschäftsführer der IBU Verify wurde – der 100-prozentigen Tochtergesellschaft des IBU e.V. Der rechtliche Grund: Nur notifizierte Stellen dürfen künftig Umweltinformationen für die EU-Bauprodukteverordnung verifizieren. „Wir nutzen die regulatorische Notwendigkeit als Chance für einen Systemwechsel“, erklärt Zwerenz.
Drei Automatisierungsansätze mit unterschiedlicher Reichweite
Zwerenz' Strategie basiert auf drei Tool-Modellen für verschiedene Nutzergruppen. Das LCA Tool funktioniert wie ein Baukasten: Einmal geprüfte Ökobilanz-Modelle werden für ähnliche Produkte wiederverwendet. "Das große Modell ist vorgeprüft, jede neue EPD braucht nur noch die produktspezifischen Daten", so Zwerenz. Ein Dämmstoffhersteller kann so aus einem Grundmodell hunderte Produktvarianten ableiten. Kostensenkung: in den niedrigen dreistelligen Bereich.
Deutlich radikaler arbeitet das EPD Tool, das Holcim bereits großflächig einsetzt: Direkt an die ERP-Systeme gekoppelt, generiert es EPDs automatisch aus der laufenden Produktion. Der LKW verlässt das Werk – und parallel entsteht seine projektspezifische Umweltbilanz. Jede Betonmischung, jeder Transportweg wird zur spezifischen Umweltdeklaration, ohne manuellen Aufwand. Hier sind einstellige Euro-Beträge bei Massenfertigung möglich.
Das dritte herstelleragnostische Tool zielt auf kleinere Unternehmen: Per Drag-and-Drop lassen sich Produktionsprozesse digital abbilden und automatisch in EPDs überführen. Der lokale Betonhersteller zieht seine Rezeptur ins System – und erhält eine fertige Umweltdeklaration. „Hier müssen wir besonders auf Qualität achten“, warnt Zwerenz. „Ein Tool ist nur so zuverlässig wie sein schwächster Nutzer.“ Wichtiger Hinweis: Dieser Tooltyp wurde noch nicht vollständig auf Herz und Nieren geprüft – erste Piloten laufen, der Ausgang ist offen. Zudem ist fraglich, ob diese Lösung mit den Anforderungen der Bauprodukteverordnung kompatibel ist.
„KI kann heute noch keine vollständige EPD erstellen“
Bei aller Automatisierung zieht Zwerenz klare Grenzen. „KI kann heute noch keine vollständige EPD erstellen – dafür braucht es erfahrene Ökobilanzexperten“, stellt er unmissverständlich klar. IBU Verify setzt stattdessen auf intelligente Unterstützung: Formale Prüfungen laufen automatisch ab, Data-Science-Algorithmen erkennen Ausreißer in den Umweltwerten. KI-gestützte Vollautomatisierung ist geplant, aber noch nicht umgesetzt.
„Aus allen bisherigen EPDs können wir Benchmarks ableiten“, erklärt Zwerenz den Ansatz. „Das System flaggt dann automatisch: 'Dieser Wert ist ungewöhnlich – schauen Sie genauer hin.'“ Die finale Bewertung bleibt menschlich – rechtlich unverzichtbar, fachlich sinnvoll.
Vom PDF zur BIM-Integration
Für Planende bedeutet die Digitalisierung einen Systemwechsel. „Das PDF wird in den nächsten Jahren obsolet“, prognostiziert Zwerenz. Stattdessen entstehen maschinenlesbare EPD-Daten im ILCD+EPD-Format – dem neuen Standard für BIM-Integration.
Tools wie der cockpit.planner von DIE WERKBANK IT zeigen bereits heute, wie projektbegleitende Ökobilanzierung funktioniert: Architekten können während der Planung kontinuierlich EPD-Daten einbinden und die Umweltwirkungen ihrer Entwurfsentscheidungen in Echtzeit bewerten. Das spart nicht nur Wochen an Abstimmung, sondern ermöglicht Variantenvergleiche in Echtzeit. "Je mehr solche Tools unsere verifizierten Daten nutzen, umso besser", sagt Zwerenz. Beim Produktwechsel im CAD-Modell werden sofort die Auswirkungen auf die Gebäude-Ökobilanz sichtbar – ein Paradigmenwechsel von statischen PDFs zu dynamischen Planungshilfen.
Drei EU-Gesetze als BrandbeschleunigerDie Bauprodukteverordnung ist nur der Anfang. Zwerenz sieht drei zentrale Regulierungen: „CPR, CSRD und EPBD – Bauprodukteverordnung, Ökodesign-Richtlinie und Gebäuderichtlinie.“ Hinzu kommt die Green Claims Directive, die unabhängige Prüfungen von Umweltaussagen vorschreibt.
Diese Regulierung verwandelt EPDs von Marketing-Instrumenten zu Geschäftsgrundlagen. „Umweltinformationen entscheiden bereits heute über Ausschreibungen“, beobachtet Zwerenz. „Teilweise geht es um Zehntel-Kommastellen." Ein Beispiel: Ein deutscher Hersteller beklagte niedrigere CO₂-Werte seines französischen Konkurrenten. "Unser Strom hat höhere CO₂-Anteile als Atomstrom“, erklärte Zwerenz. „Aber schauen Sie auf radioaktive Abfälle – da liegt Ihr Konkurrent dramatisch höher.“
Jetzt handeln
Für zögernde Planende hat Zwerenz einen pragmatischen Rat: „Keine Angst vor neuen Werkzeugen – einfach anfangen. Fehler gehören dazu, wichtig ist der erste Schritt.“ Die Transformation läuft bereits: Verschiedene Anbieter entwickeln digitale EPD-Tools, während IBU Verify diese auf Qualität prüft.
„Wer heute noch wartet, läuft morgen den Daten hinterher“, fasst Zwerenz die Dringlichkeit zusammen. „Die Branche steht vor der größten Datenrevolution ihrer Geschichte – wer jetzt nicht einsteigt, verpasst den Anschluss.“ In einer Branche, die Millionen von Produkten digital erfassen muss, entscheidet diese Haltung über Erfolg oder Scheitern. Die Frist läuft – und Digitalisierung bietet den einzigen realistischen Lösungsweg.
Über den Experten:
Stefan Zwerenz, M. Eng., ist Geschäftsführer der IBU Verify GmbH und leitete davor die Verifizierungsstelle des Instituts Bauen und Umwelt e. V. (IBU). Der Bauingenieur (B. Eng. Geoinformatik & Bauingenieurwesen, M. Eng. Sustainable Structures) arbeitet seit 2010 an Umweltproduktdeklarationen (EPDs) und generischen Datensätzen für Bauprodukte. Nach ersten Stationen bei Canzler Ingenieure wechselte er 2013 zum IBU und verantwortete dort die Entwicklung und Umsetzung von Prüfrichtlinien, bevor er Geschäftsführer der 100% Tochter des IBU, der IBU Verify GmbH wurde. Zudem vertritt er das IBU e.V. als Vorstandsmitglied in der ECO-Platform Aisbl.
Stefan Zwerenz engagiert sich in europäischen Normungsgremien und ist Mitglied der Group of Notified Bodies (GNB) zur Bauprodukteverordnung sowie des Sachverständigenausschusses Nachhaltigkeit des DIBt. Mit seiner Kombination aus technischem Know-how und regulatorischer Erfahrung gilt er als Garant für unabhängige, qualitativ hochwertige Verifizierung von Umweltinformationen im Bauwesen.